Mehr Kanäle, weniger Inhalt – wie Unternehmen ihre Social-Media-Strategie verwässern
Kaum eine Branche, kaum ein Verein, kaum ein mittelständisches Unternehmen, das es sich heute noch leisten kann, nicht auf Social Media präsent zu sein. Doch aus dem ursprünglichen Ziel – echte Nähe zum Kunden aufzubauen – ist vielerorts ein reflexartiges „Dabei-Sein“ geworden. Die Folge: Facebook-Profile im Dornröschenschlaf, Instagram-Feeds ohne erkennbare Linie und TikTok-Kanäle mit drei Videos aus 2022. Parallel dazu überschlagen sich dieselben Akteure mit Ankündigungen wie: „Wir sind jetzt auch auf TikTok!“
Doch was bringt es, neue Plattformen zu eröffnen, wenn die bisherigen kaum gepflegt werden? Was wie Fortschritt klingt, entpuppt sich oft als oberflächliche Symbolpolitik. Der folgende Artikel wirft einen kritischen Blick auf das Phänomen der überdehnten Social-Media-Präsenzen – und beleuchtet, warum weniger manchmal mehr wäre.
Mehr Kanäle, weniger Inhalt – wie Unternehmen ihre Social-Media-Strategie verwässern
Die inflationäre Ankündigung
„Wir sind jetzt auch auf TikTok!“ – kaum ein Tag vergeht, ohne dass Firmen, Kommunen oder Vereine auf genau diese Weise den Start eines neuen Auftritts verkünden. Vom Autohaus über die Baufirma bis zur Gemeinde Schöppingen: Die Botschaft gleicht sich wortwörtlich, der Mehrwert bleibt oft unklar.
„Wir sind jetzt auch auf TikTok!“ – dieser Satz taucht zunehmend in Pressemitteilungen, Social-Media-Posts oder Newslettern auf. Was als Information gedacht ist, wirkt oft wie ein Aktionismus-Signal: Hauptsache dabei sein, bevor es zu spät ist. Dabei fehlt häufig die Substanz dahinter. Die Ankündigung steht isoliert, ohne echte Strategie, geschweige denn einem Content-Plan. Gerade kleine und mittlere Unternehmen übernehmen sich mit der Vielzahl an Plattformen – und vernachlässigen dabei ihren eigentlich schon bestehenden Social-Media-Auftritt. So entsteht ein Zersplitterungseffekt, bei dem keiner der Kanäle richtig funktioniert.
FOMO statt Fokus
Warum also dieser Drang zur Expansion? Einerseits lockt das enorme Wachstum junger Plattformen: Instagram legte 2024 um 25 %, TikTok verwandelte 44 % seiner Nutzer in Käufer – Kennzahlen, die Vorstände nervös machen. Andererseits stehen Social-Media-Teams unter internem Druck, „innovativ“ zu wirken und dem Wettbewerb keine Bühne zu überlassen – selbst wenn die nötigen Ressourcen dafür fehlen.
Ein zentraler Treiber dieser Entwicklung ist die sogenannte „Fear of Missing Out“ – die Angst, einen Trend zu verpassen. Wenn Wettbewerber auf TikTok präsent sind oder sich über Instagram Erfolge sichern, entsteht ein gefühlter Handlungsdruck. Doch aus strategischer Sicht ist dieser Reflex gefährlich. Statt den Fokus zu schärfen und sich auf die Kanäle zu konzentrieren, die zur eigenen Zielgruppe und Marke passen, wird häufig ins Blaue hinein gepostet. Oft fehlt die Reflexion: Passt diese Plattform wirklich zu meinem Content, zu meinem Tonfall, zu meinem Geschäftsmodell? Vieles geschieht nicht aus Überzeugung, sondern aus einem diffusen Drang, „mitzumachen“.
Das Ressourcen-Paradoxon
Gerade kleine Teams bekommen die Quadratur des Kreises kaum hin: Ein, zwei Kanäle lassen sich noch mit relevantem Content bespielen – mehr nicht. Darum raten selbst Agenturen, lieber weniger Plattformen zu wählen und diese konsequent zu pflegen. Studien belegen zudem, dass Nutzer Qualität höher bewerten als reine Posting-Frequenz; „mehr Content“ ist nicht die Lösung für sinkende Reichweiten.
Social Media wirkt nach außen oft schnell, spontan und einfach – in der Realität ist es das Gegenteil. Professionelle Social-Media-Kommunikation braucht Planung, redaktionellen Aufwand, Bildmaterial, Community-Management, Analyse und regelmäßige Optimierung. Viele Unternehmen, die neue Plattformen eröffnen, unterschätzen diesen Aufwand. Die Folge: Während neue Profile mit viel Enthusiasmus gestartet werden, verwaisen bestehende Auftritte. Inhalte werden lieblos kopiert, Community-Anfragen bleiben unbeantwortet. Das führt nicht nur zu Frustration bei den Followern, sondern schadet auch dem Algorithmus, der inaktive oder wenig relevante Inhalte abstraft.
Risiko I: Audience & Algorithm Fatigue
Halbherzige Multi-Channel-Strategien münden schnell in „Noise“ statt Dialog: Unregelmäßige Zeitpläne, Copy-Paste-Posts und Trend-Hopping ohne Story führen zu Ermüdung – die Algorithmen strafen das mit Reichweitenverlust ab. Gleichzeitig droht „Posting Too Much“ oder völlig inkonsistente Tonalität, wie Marketingagenturen warnen.
Die sozialen Netzwerke sind überfüllt mit Content – und die Nutzer zunehmend selektiv. Wer keine Relevanz bietet, wird schnell ignoriert oder entfolgt. Gepaart mit der Unberechenbarkeit von Algorithmen entsteht eine toxische Kombination: Unregelmäßige, schlecht abgestimmte Inhalte führen zu Reichweitenverlusten, die wiederum demotivierend auf das Social-Media-Team wirken. Hinzu kommt die sogenannte Algorithm Fatigue – wenn Nutzer durch zu viele Inhalte, die nicht auf sie zugeschnitten sind, „müde“ werden. Nur konsistente, wertvolle Inhalte schaffen es, dauerhaft sichtbar zu bleiben.
Risiko II: Verwässerte Markenidentität
Je mehr Kanäle, desto größer die Gefahr widersprüchlicher Botschaften. Inkonsequente Markenführung „fühlt sich für Kunden an wie ein Chamäleon“ – ein Befund aus dem jüngsten Messaging-Report. Wer heute seriös, morgen flapsig und übermorgen gar nicht postet, verliert Wiedererkennungswert und Vertrauen.
Markenkommunikation lebt von Wiedererkennbarkeit. Eine klare Tonalität, visuelle Konsistenz und nachvollziehbare Inhalte sind entscheidend. Wer jedoch auf jeder Plattform einen anderen Stil fährt oder unregelmäßig postet, verwässert die eigene Identität. Ein jugendlicher Clip auf TikTok, ein staubtrockener Fachbeitrag auf LinkedIn und ein Verkaufs-Post auf Facebook – all das mag jeweils für sich stehen, ergibt aber in Summe kein stringentes Bild. Das Resultat: Die Marke verliert an Schärfe und Glaubwürdigkeit.
Vertrauen & Bindung stehen auf dem Spiel
Vertrauen ist jedoch die Währung der sozialen Netze: 57 % der Konsumenten geben laut Sprout-Studie mehr Geld bei Marken aus, zu denen sie sich verbunden fühlen; 78 % erwarten von Unternehmen, dass sie genau diese Verbindung aktiv fördern. Werden Community-Erwartungen ignoriert, wechseln User schneller denn je zur Konkurrenz.
Eine starke Social-Media-Präsenz ist nicht nur ein Marketinginstrument – sie ist ein Kanal für Beziehungspflege. Wer hier versagt, sendet ein klares Signal: „Wir interessieren uns nicht wirklich für unsere Community.“ Das hat direkte Auswirkungen auf die Kundentreue. Studien zeigen: Konsumenten bleiben Marken treu, zu denen sie eine emotionale Bindung aufgebaut haben – und diese Bindung entsteht über Dialog, Transparenz und Verlässlichkeit. Wird der Kanal hingegen zur reinen Werbeschleuder oder bleibt unbeantwortet, entsteht Entfremdung statt Nähe.
Was Nutzer wirklich wollen
Die Erwartungen an Unternehmenspräsenzen auf Social Media sind heute hoch. Nutzer wollen nicht einfach Werbung sehen – sie wollen informiert, unterhalten und einbezogen werden. Edutainment, also die Verbindung von Bildung und Unterhaltung, hat sich als besonders wirkungsvoll erwiesen. Hinzu kommt der Wunsch nach Interaktion: Kommentare, Likes, Fragen – alles will ernst genommen und beantwortet werden. Außerdem erwarten Nutzer eine plattformgerechte Ansprache: TikTok braucht anderes Storytelling als LinkedIn, Instagram funktioniert nicht wie Facebook. Wer das ignoriert, wirkt deplatziert – oder im schlimmsten Fall peinlich.
Die gleichen Studien zeigen klar:
- Edutainment – Inhalte, die informieren und unterhalten, schneiden am besten ab.
- Dialog statt Monolog – echte Interaktion, nicht nur Werbesprech.
- Plattform-spezifische Ansprache – TikTok-Humor funktioniert selten auf LinkedIn.
Fünf Handlungsempfehlungen
- Audit first. Analysiere deine bestehenden Kanäle: Was funktioniert? Wo ist Aktivität, wo entsteht echte Interaktion? Erst auf dieser Basis sollte über Erweiterungen entschieden werden.
- Ressourcen realistisch planen: Jeder neue Kanal bedeutet Mehraufwand. Ohne ein klares Team, einen Redaktionsplan und Community-Management ist ein neuer Auftritt zum Scheitern verurteilt.
- Qualität vor Quantität: Lieber zwei hochwertige Beiträge pro Woche als täglich liebloser Massen-Content. Nutzer merken, wenn Inhalte durchdacht und auf sie zugeschnitten sind.
- Plattform-Logik respektieren: Kein Crossposten ohne Anpassung! Jeder Kanal hat seine eigene Sprache, Zielgruppe und technische Logik. Inhalte müssen entsprechend angepasst werden.
- Engagement analysieren: Reichweite ist nicht alles. Viel wichtiger ist die Interaktion: Kommentare, Shares, Klicks. Eine sinkende Engagement-Rate ist ein Frühwarnsystem – und sollte ernst genommen werden.
Depth vs. Breadth: Patagonia’s fokussierte Social-Footprint gegen Nikes Kanal-Imperium
21. Mai 2025
Zwei konträre Modelle
Unternehmen, die Social Media ernst nehmen, stehen vor einer Grundsatzfrage: Lieber wenige Kanäle konsequent meistern oder überall präsent sein? Ein Blick auf zwei Ikonen liefert Anschauungsunterricht – Patagonia (Outdoor-Bekleidung) und Nike (Sportartikel).
Patagonia: Storytelling statt Kanal-Hopping
- Kanal-Set-up: Im Kern bespielt Patagonia drei große Netzwerke (Instagram, Facebook, X/Twitter) und verzichtet weitgehend auf Plattform-Experimente wie Pinterest oder Twitch.(Business Model Analyst)
- Instagram als Herzstück: 6,4 Mio. Follower, aber nur 0,03 % Wachstum – dafür stabile Engagement-Rate von 0,26 % und eine Community, die Umwelt-Posts ebenso liked wie Produktstories.(Dash Social)
- Qualität schlägt Quantität: 33 Posts im April — im Schnitt gut vier pro Woche — erzielten ≈ 6,8 k Interaktionen je Beitrag, mehr als das Dreifache des Outdoor-Branchendurchschnitts.(Rival IQ)
- Inhaltlicher Fokus: Nachhaltigkeitskampagnen wie Worn Wear oder Recycling-Tutorials dominieren die Feeds; Produkt-Pushes treten in den Hintergrund.(Ptengine)
Ergebnis: Patagonia nutzt knappe Ressourcen für tiefes Community-Management statt flächiger Reichweite und bleibt trotzdem eine der „lautesten“ Marken im Outdoor-Segment.
Nike: 300 Profile, sieben Plattformen, gigantische Reichweite
- Omni-Präsenz: Laut eigener Analyse unterhält Nike mehr als 300 Accounts auf Instagram, Facebook, X, TikTok, YouTube, LinkedIn und Pinterest.(Brand24)
- Follower-Mass: 302 Mio. (Instagram), 39 Mio. (Facebook), 10 Mio. (X), 7 Mio. (TikTok) usw. – zusammen ein globales Publikum, das praktisch jede Zielgruppe abdeckt.(Brand24)
- Engagement-Spannbreite:
- Instagram 0,03 %
- X 0,08 %
- TikTok 0,72 %
- YouTube 0,91 %(Brand24)
- Schwergewicht Werbung & Influencer: 54 Mio. Interaktionen und 1,7 Mrd. Reach in 30 Tagen — möglich durch Paid-Boosts und A-List-Kooperationen (Travis Scott, SKIMS-Collab u. a.).(Brand24)
Ergebnis: Nike beherrscht den Sektor „Share of Voice“, erkauft sich Reichweite aber mit hohem Budget- und Produktionsaufwand.
Vergleich auf einen Blick
Kriterium | Patagonia (fokussiert) | Nike (multi-channel) |
---|---|---|
Kernplattformen | 3 | 7 + (300 Profile) |
Reichweite IG | 6,4 M Follower | 302 M Follower |
IG-Engagement-Rate | 0,26 % | 0,03 % |
Content-Volumen | ~4 Posts/Woche | Plattformabhängig; mehrere Formate täglich |
Hauptziel | Community & Aktivismus | Reichweite & Lifestyle-Narrativ |
Kostenstruktur | Schlankes In-House-Team, wenig Paid | Großes Paid-Budget, Influencer-Fees |
Was Marken daraus lernen können
- Engagement > Audience Size
Eine 0,26-prozentige Rate bei 6 Mio. Fans schafft mehr Dialogtiefe als 0,03 % bei 300 Mio. – und das merkt auch der Algorithmus. - Narrativ schlägt Format-Fülle
Patagonia gewinnt Sympathie durch konsistente Klimakommunikation; Nike muss jede Woche neue Kampagnengeschichten liefern, um Aufmerksamkeit zu halten. - Ressourcen realistisch kalkulieren
Drei Plattformen reichen, wenn Budget und Man-Power begrenzt sind. Multi-Channel ohne dedizierte Teams endet fast zwangsläufig in Copy-Paste-Inhalten. - Plattformen gezielt spielen
Nike zeigt, dass TikTok für Awareness taugt (0,72 %), Instagram für Brand-Aesthetics – doch ohne kanaltypische Inhalte bleiben Kennzahlen flach. - Aktivismus oder Entertainment?
Beide Wege können funktionieren, aber sie schließen sich oft aus. Marken sollten sich entscheiden, statt beides halbherzig zu verfolgen.
Fazit
- Patagonia beweist: Ein klarer Markenkern, Story-First-Content und begrenzte Kanalzahl können hohe Loyalität erzeugen.
- Nike demonstriert: Breite Präsenz maximiert Sichtbarkeit, erfordert jedoch konstante Investitionen, um Relevanz zu halten.
Die Wahl hängt nicht von der Unternehmensgröße ab, sondern von Zielen, Ressourcen und Markenidentität. Für viele Mittelständler dürfte der „Patagonia-Pfad“ der machbarere – und messbar effektivere – Ansatz sein.
Eine neue Plattform allein löst kein Engagement-Problem – sie vervielfacht es. Wer seine Social-Media-Präsenz expandieren will, braucht zuerst eine stabile Basis, klare Ziele und genug Personal. Andernfalls wird „Wir sind jetzt auch auf TikTok“ schnell zur Floskel, die mehr Schaden anrichtet als Reichweite gewinnt.
Quellen
- https://www.mannundpartner.de/news/wir-sind-jetzt-auch-auf-instagram%21?utm_source=chatgpt.com „Wir sind jetzt auch auf Instagram! – Mann Und Partner Gmbh“
- https://www.schoeppingen.de/portal/meldungen/neuigkeiten-aus-schoeppingen-wir-sind-jetzt-auch-auf-instagram–900000601-28230.html?rubrik=900000001&utm_source=chatgpt.com „Neuigkeiten aus Schöppingen: Wir sind jetzt auch auf Instagram!“
- https://blog.hootsuite.com/social-media-statistics/ „60 social media statistics marketers need to know in 2025“
- https://entweder-ott.de/news/201-muss-man-auf-social-media-alle-kanaele-bespielen.html „Muss man auf Social Media alle Kanäle bespielen? „
- https://sproutsocial.com/insights/data/2024-social-content-strategy-report/ „The 2024 Social Media Content Strategy Report | Sprout Social“
- https://www.campaignasia.com/article/social-media-fatigue-agencies-must-spark-conversations-not-noise/500295 “ Social media fatigue? Agencies must spark conversations, not noise | Analysis | Campaign Asia „
- https://www.imagineitstudios.com/10-social-media-tips-your-company-should-never-do-part-1/ „10 Social Media Tips Your Company Should Never Do – Part 1 | Imagine It Studios“
- https://www.highlypersuasive.com/5-ways-inconsistent-brand-messaging-is-killing-your-brand/ „5 Ways Inconsistent Brand Messaging Is Killing Your Brand (And What To Do About It) | Highly Persuasive“
- https://sproutsocial.com/insights/data/social-media-connection/ „#BrandsGetReal: What consumers want from brands in a divided society“